Hühnersuppe zu Weihnachten – Eine lesbische Geschichte

Kurzbeschreibung:

Es hätte für Kira ein ruhiger Einstieg in die Weihnachtsfeiertage sein können. Zwar muss sie erneut die eigentlich schönste Zeit des Jahres als Single verbringen, aber das ist sie aus den letzten Jahren bereits gewohnt. Immerhin soll es beruflich endlich bergauf gehen. Zumindest glaubt Kira das, bis sie erfährt, dass einer anderen der Posten als neue Teamleiterin zugesagt wurde. Mia Baumbach, rein zufällig die Nichte des Geschäftsführers und ab sofort Kiras neue Chefin, kreuzt Kiras Wege seit dem Tag ihres ersten Kennenlernens permanent an den ungewöhnlichsten Orten. Kira glaubt bereits, unter einem bösen Fluch zu stehen. Doch je häufiger sich die beiden Frauen über den Weg laufen, desto mehr muss sich Kira eingestehen, dass diese Frau nicht annähernd so schrecklich ist, wie sie es sich einzureden versucht. Auf leisen Sohlen stielt sie sich unbewusst und gegen Kiras Willen in ihr Herz. Doch kann sich Kira überwinden und sich ihre Gefühle eingestehen?

Leseprobe

Kapitel 1

Einen unmöglicheren Start ins Wochenende hätte Kira kaum haben können. Nicht nur, dass sie kurz vor Feierabend von einer Kollegin erfahren hatte, dass ihr der Posten als Teamleiterin schon wieder durch die Lappen gegangen war, jetzt war gerade noch ihre Einkaufstüte nur wenige Meter vor ihrem Auto geplatzt. Sämtlicher Inhalt verteilte sich auf dem schneenassen Parkplatz und kullerte in alle Himmelsrichtungen. Natürlich war ihr die Aufmerksamkeit der vorbeiziehenden Passanten gewiss. Doch selbst die, die bislang noch nichts von ihrem kleinen Malheur mitbekommen hatten, wurden spätestens durch Kiras lautes Fluchen angelockt. Dass sie Kira fluchen hörten, fand sie halb so schlimm. Dass alle sahen, aus welchem ungesunden Mist ihr Einkauf bestand, schon. Zwei Tiefkühlpizzen, Spaghetti mit Käsesoße, eine Tüte Chips, drei Päckchen Lebkuchen und Gummibärchen. Ach, und eine Cola. Mit Zucker. Eben ein typischer Wochenendeinkauf, wenn man plante, sich frustriert zu Hause einzuigeln, um sich mit einem Serienmarathon abzulenken. Eigentlich hatte sie gehofft, dass ihre beste Freundin Marlene ebenfalls mit von der Partie sein würde. Doch die hatte abgesagt, weil wieder das „Würzburg-Wochenende“ bevorstand. Sie und ihr Freund Maik besuchten sich an den Wochenenden im Wechsel. Einmal war er bei Marlene in Köln, dann sahen sie sich am darauffolgenden Wochenende meist nicht und dann folgte der Besuch in Würzburg. Seit zwei Jahren machten die zwei das so, aber noch immer konnte sich Kira nicht merken, wann wer wo war.

Es gab noch eine zweite Option. Katja. Doch Kira entschied sich gegen einen Anruf bei ihr. Seitdem sie wusste, dass Katja ein Auge auf sie geworfen hatte, gestaltete sich ihre Freundschaft schwierig. Kira bereute den One-Night-Stand mit ihr, denn ab genau diesem Zeitpunkt hatte Katja angefangen, mehr aus ihnen beiden zu machen, als da tatsächlich war. Kira mochte Katja. Sehr sogar. Aber eben nur als eine Freundin. Sie entsprach mit ihren langen, blonden Haaren und ihrer überaus femininen Erscheinung nicht Kiras Typ. Wie es zu diesem One-Night-Stand gekommen war, war Kira bis heute ein Rätsel. Fest stand aber, dass an diesem Abend eine Menge Alkohol im Spiel gewesen war. Nicht zum ersten Mal war Kira das zum Verhängnis geworden. Sie vertrug nicht viel und neigte ab einer gewissen Menge zu Blackouts. Deshalb hielt sie sich meistens sehr zurück. Meistens, aber eben nicht immer. Und in letzter Zeit noch weniger.

Jedenfalls war Kira der Meinung, dass sie Katja mit einer Einladung für ein Wochenende zu zweit ein falsches Signal geben würde und entschied, es sich allein unter der großen, kuscheligen Sofadecke gemütlich zu machen. Doch zuerst musste es ihr gelingen, ihre erworbenen Habseligkeiten von der Straße aufzulesen und sie sicher zum Auto zu transportieren. Sie stopfte so viel wie möglich in ihre Jacke und klemmte sich den Rest unter die Arme. Dann schritt sie vorsichtig und möglichst, ohne ihren Oberkörper zu bewegen, zu ihrem Wagen. Sie kam sich mit ihrem Pinguin-Gang ziemlich dämlich vor, aber er erfüllte seinen Zweck. Mit einem Klick auf ihren Schlüssel entriegelte sie das Auto, öffnete die Beifahrertür und entleerte ihre Jacke auf dem Beifahrersitz. Immerhin. Das hatte geklappt. Jetzt war es höchste Zeit, den Heimweg anzutreten und mit ihrem Gammelwochenende loszulegen.

Sie legte den Rückwärtsgang ein, warf einen Blick in den Rückspiegel und setzte den Wagen in Bewegung. Nur noch ein wenig weiter einschlagen und kawumm, tat es wie aus heiterem Himmel einen heftigen Knall. Reflexartig trat Kira auf die Bremse, doch da hatte das unerwartete Hindernis den Wagen bereits zum Stoppen gebracht. So eine verfluchte Scheiße. Kira schlug zornig gegen ihr Lenkrad. Wer war bitte so dämlich gewesen und hatte sie übersehen? Sie blickte in den Rückspiegel und sah einen silbergrauen VW. Das Fahrzeug hing so dicht vor ihrem Kofferraum, dass Kira mühelos das verdatterte Gesicht einer jungen Frau erkennen konnte, die sich gerade abschnallte und nach ihrer Fahrzeugtür griff. Auch Kira stieg wutschnaubend aus.

„Haben Sie keine Augen im Kopf? Sie müssen doch gesehen haben, dass ich gerade am Ausparken war“, lief sie der Frau schimpfend entgegen.

Das freundliche Lächeln der Frau verschwand prompt und wich einer finsteren Miene. Kira war’s egal. Ihre Laune war ohnehin bereits auf dem Nullpunkt, daran durfte die Frau gern teilhaben.

„Ich weiß ja nicht, ob Sie einen Führerschein haben. Falls aber doch, sollten sie gelernt haben, dass sie nicht einfach, ohne zu gucken, in den laufenden Verkehr fahren dürfen“

„Ich habe geguckt und da war niemand“, trotzig verschränkte Kira die Arme.

„Dann steht es mit ihren Augen wohl nicht zum Besten“, konterte die Frau und verschränkte ihre Arme jetzt ebenfalls demonstrativ.

Was eine eingebildete Kuh, dachte Kira. Dabei hatte die Frau nicht ganz unrecht. Kira sollte, zumindest beim Autofahren, tatsächlich eine Brille tragen. So stand es in ihrem Führerschein und das könnte ihr im Zweifel wirklich zum Verhängnis werden.

„Ich schlage vor, wir rufen die Polizei und dann wird sich herausstellen, wer hier den Fehler gemacht hat“, fügte die Frau hinzu, als hätte sie soeben Kiras Gedanken gelesen.

„Nein“, platzte es etwas vorschnell aus Kira raus. Sie wollte unter keinen Umständen preisgeben, dass sie womöglich im Unrecht war.

„Ich…also, lassen sie uns doch einfach Adressen tauschen. Wir geben die Sache an unsere Versicherungen weiter und dann werden die das regeln“, machte Kira ihr einen Gegenvorschlag.

„Na meinetwegen“, zeigte sich die Frau einverstanden.

Sie begutachteten zusammen den Schaden, machten mit ihren Handys einige Fotos und nannten sich ihre Kontaktdaten. Mia Baumbach war der Name der Frau mit den haselnussbraunen, kurzen Haaren. Wären sie sich unter anderen Umständen begegnet, hätte Kira sie als Sahneschnittchen bezeichnet, denn sie entsprach absolut ihrem Beuteschema. Doch jetzt war Kira einfach froh, dass sie wieder getrennte Wege gingen und sie sich endlich bis Montag in ihrer gemütlichen Höhle vergraben konnte.

Der Montag kam schneller als erhofft. Kira hatte tatsächlich das gesamte Wochenende keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Sie war sich aber sicher, nichts verpasst zu haben. Denn in den letzten Tagen vor Weihnachten war es unangenehm kalt und nass und die wenigen Schneeflocken, die es bis zum Boden schafften, lösten sich unmittelbar bei ihrer Ankunft in Wasser auf. Am heutigen Morgen konnte sie dem schlechten Wetter jedoch nicht entfliehen, denn um acht Uhr würde ihre Schicht beginnen. Sie arbeitete in einem Call-Center. Als Customer Service Agent, wie es ihr Arbeitgeber in seinen Stellenangeboten gern hochtrabend formulierte. In Wahrheit war man damit nichts weiter, als der schlecht bezahlte Arsch vom Dienst, der sich tagein tagaus mit wütenden und bisweilen uneinsichtigen Kunden rumschlagen musste. Würde Kira nicht noch nebenbei Zumba-Kurse geben, hätte sie sich diesen Job gar nicht leisten können und schon mehr als einmal hatte sie das Handtuch werfen wollen. Doch die Aussicht auf einen Teamleiterposten hatte sie weiter ausharren lassen. Im letzten Personalgespräch hatte man ihr versprochen, dass die nächste vakante Teamleiterstelle durch sie besetzt werden würde. Zwar konnte ihr niemand sagen, wann es soweit war, aber bis dahin hatte sie auf jeden Fall durchhalten wollen. Und dann kam sie. Die Chance. Vor genau vier Wochen hatte ihr derzeitiger Teamleiter die Kündigung eingereicht. Kira hatte sich fest darauf verlassen, dass sie nun endlich zum Zuge käme. Dann aber, letzten Freitag, erreichte sie die Hiobsbotschaft durch eine Kollegin, die normalerweise die Letzte war, die über solche Dinge Bescheid wusste.

„Es ist noch nicht offiziell, aber ich habe mitbekommen, dass die neue Teamleiterin die Nichte vom Altmann ist“, hatte sie Kira kurz vor Feierabend gesteckt. Herr Altmann war der Geschäftsführer des Unternehmens und ließ sich am Standort Köln eher selten blicken. Persönlich kennengelernt hatte Kira ihn bislang nicht, kannte ihn aber von seinen ausschweifenden Vorträgen während der Betriebsratsvollversammlungen. Sie mochte ihn nicht besonders. Aber das tat niemand. Dass ausgerechnet er Kira einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, nahm sie im äußerst übel und sie schwor sich, im neuen Jahr nach einen anderen Job Ausschau zu halten. Bis dahin musste sie die bittere Pille schlucken und zusehen, wie eine andere ihren Job übernahm.

Kira war, wie so oft, die erste im Büro. Sie mochte es nicht, beim Betreten des Büros sofort von ihren Kollegen belagert und mit Fragen überhäuft zu werden. Doch so lief es meistens. Für ihre Kollegen war sie schon immer die inoffizielle Teamleiterin, weil sie, im Gegensatz zum eigentlichen Chef, zu jeder Frage eine kompetente Antwort parat hatte. Gestört hatte sie diese Situation bislang nicht. Sie hatte es als Investition, als das notwendige Engagement verstanden, um diesen Posten irgendwann offiziell ihr Eigen nennen zu können. Und jetzt das. Sie wurde übergangen. Wegen einer Frau, die vermutlich keine Ahnung vom täglichen Geschäft hatte. Kira, das hatte sie sich fest vorgenommen, wollte sie gnadenlos auflaufen lassen. Ihre Hilfsbereitschaft hatte ab sofort ein Ende.

„Das kann nur eure Teamleiterin beantworten“, war der Satz, den Kira sich im Falle einer Frage zurechtgelegt hatte.

Allmählich trudelten die ersten Kollegen ein. Frauke, von der sie am Freitag über die Personaländerung informiert worden war, machte auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch bei Kira Halt.

„Kira, ich habe am Freitag noch von Tina erfahren, dass eigentlich du für den Posten vorgesehen warst. Tut mir so leid. Ich hab das nicht gewusst. Ich wollte dir nur sagen, dass du die Stelle auf jeden Fall verdient hättest.“

Kira knirschte mit den Zähnen. Was wohl als nette Geste gemeint war, entfachte abermals Kiras Zorn auf ihren Arbeitgeber. Und mit Tina, der alten Plaudertasche, musste sie über das Thema Verschwiegenheit wohl auch mal ein paar Worte wechseln.

„Danke“, erwiderte sie und zwang sich zu einem Lächeln. Um das unangenehme Gespräch nicht weiter fortführen zu müssen, richtete Kira ihren Blick auf ihren Monitor. Sie öffnete ihr E-Mail-Programm und sogleich sprang das Benachrichtigungsfenster für anstehende Termine auf. Genau um acht Uhr hatte der Abteilungsleiter zu einer „kurzen Kennenlernrunde mit dem neuen Teammitglied“ eingeladen. Kira stöhnte genervt und schloss das Fenster mit einem Klick. Sie blickte auf die Uhr. Fünf vor acht. Genug Zeit, um sich noch einen Kaffee zu holen.

Als sie mit ihrer dampfenden Tasse ins Büro zurückkehrte, hatten die Kollegen ihre Bürostühle bereits zum Teamleiterschreibtisch ausgerichtet. Davor stand Herr Goldhaus, der Abteilungsleiter. Spießig wie immer, mit Anzug und Krawatte. Er unterhielt sich mit einer Frau, die ihnen den Rücken zugewandt hatte, sodass Kira ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Es war jedoch unschwer zu erraten, um wen es sich handelte. Sie trug eine weiße Bluse und eine dunkelblaue Stoffhose. Dazu braune Pumps. Wäre da nicht der Kurzhaarschnitt, hätte Kira sie geradewegs in die Schublade Tussi bugsiert. Kira war eher der Casual Typ und bevorzugte Frauen, die es mit ihrer Kleiderwahl ähnlich leger hielten. Natürlich hatte sie nichts gegen ein hübsches Dekolleté einzuwenden, solange der dazugehörige Kopf nicht vom Kinn bis zur Stirn mit Makeup zugekleistert war. Doch selbst, wenn sich diese Frau in ihrer kompletten, unverhüllten Natürlichkeit präsentieren würde, könnte sie bei Kira unter keinen Umständen punkten.

Kira wollte gerade ihre randvolle Tasse auf dem Schreibtisch abstellen, da begann sich die Frau zu ihnen umzudrehen. Kira erblickte ihr Gesicht, zuckte vor Schreck zusammen und ließ ihre Kinnlade und um ein Haar auch ihre Kaffeetasse fallen. Unsanft landete das Gefäß auf dem Schreibtisch, sodass ein heißer Schwapp des Getränks auf ihrer Hand landete und Kira zu einem lauten „Scheiße, ist das heiß“-Ausruf zwang.

Jegliches Gemurmel erstarb sofort und sämtliche Augen richteten sich auf Kira. Auch die Augen der Frau, deren Bekanntschaft Kira bereits am Freitag auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt machen durfte, ruhten jetzt auf ihr. Mia Baumbach. Die Frau mit dem grauen VW und dem Blechschaden, den sie Kira zu verdanken hatte. Sie schien ebenfalls überrascht, ihrer Unfallgegnerin so schnell wieder zu begegnen. Ihr ungläubiger Blick verriet das eindeutig. Doch sie fasste sich schnell. Mit einem lauten Räuspern lenkte sie die Aufmerksamkeit zurück auf sich und nickte anschließend ihrem Vorgesetzten auffordernd zu.

„Ja“, begann Herr Goldhaus lächelnd und zupfte sein Jackett zurecht, „Wie Sie durch meine Einladung bereits erfahren haben, möchte ich Ihnen gern ihre neue Teamleiterin vorstellen.“

Er machte eine präsentierende Geste in ihre Richtung.

„Wollen Sie vielleicht ein paar Worte über sich sagen?“

Sie nickte.

„Gern möchte ich mich bei Ihnen vorstellen. Mein Name ist Mia Baumbach. Ich bin gerade ins schöne Köln umgezogen. Davor habe ich in München BWL studiert und konnte daneben bereits in der Branche Erfahrungen sammeln. Ich freue mich auf die bevorstehenden Aufgaben und bin sicher, dass wir schnell als Team zueinanderfinden werden. Um Sie alle besser kennenzulernen, werde ich Sie einzeln im Laufe der Woche zu einem kurzen Gespräch einladen. Sie bekommen von mir dazu eine E-Mail.“

Bestimmt hatte sie sich ihre Worte im Vorfeld sorgsam zurechtgelegt. Trotzdem wirkte ihr Auftritt nicht gekünstelt, sondern durchaus ansprechend. Kira ließ ihren Blick über die angetanen Gesichter ihrer Kollegen schweifen. Scheinbar brauchte es bloß ein paar nette Worte und ein freundliches Lächeln, um die Meute von sich zu überzeugen. Doch an Kira würde sie sich die Zähne ausbeißen. Da half dieser Mia weder ihr ausgesprochen hübsches Gesicht, noch konnte Miss München sie mit ihrem BWL-Abschluss beeindrucken.

Nach Abschluss der Vorstellungsrunde nahm die neue Teamleiterin sogleich ihren Platz an ihrem Schreibtisch ein und das Team ging unaufgefordert seiner Arbeit nach. Auch Kira machte sich startbereit für ihr erstes Telefonat am heutigen Tag. Gerade strotzte sie nicht vor Motivation, doch was getan werden musste, musste getan werden. Ihre Aufgabe war es, Kunden in Rechnungsfragen zu beraten. Sie öffnete das Programm, das ihr die Liste mit den Rückrufaufforderungen zeigte und begann mit ihrer Arbeit. Zwischendurch tauchten, wie es nicht anders zu erwarten war, einige Kollegen auf, um ihr die üblichen Fragen zu stellen.

„Oh, gerade ist es ganz ungünstig. Frag am besten Frau Baumbach“, zwang sie sich zu ihrer neuen Standardantwort. Es tat ihr jedes Mal leid, wenn sie daraufhin in hilflose Gesichter blickte. Und es widerstrebte Kira zutiefst, sich derart unkollegial zu zeigen. Doch sie musste diesmal hart bleiben. Ihr Arbeitgeber honorierte ihre zusätzliche Leistung nicht und deshalb stand sie dafür eben nicht mehr zur Verfügung.

Kurz vor ihrer Mittagspause tauchte in ihrem Postfach eine neue E-Mail auf. Eine Nachricht von Frau Baumbach. Kira rümpfte unwillkürlich die Nase. Dann aber fiel ihr ein, dass Frau Baumbach ungehinderte Sicht auf sie und ihre vielsagende Miene hatte und riss sich eilig zusammen. Sie öffnete die Mail.

Hallo Frau Beck,

ich bitte Sie, um 12.30 Uhr in Besprechungsraum 013 zu kommen.

Viele Grüße

Mia Baumbach

Mia. Ein Name, der so völlig unschuldig und nett daherkam. Genau wie Miss Münchens Erscheinungsbild. Große, strahlende Augen, ein gewinnendes und zugleich schüchternes Lächeln mit kleinen Grübchen auf den Wangen. Alles schrie danach, diese Frau mögen zu müssen. Doch den Gefallen wollte Kira ihr nicht tun, egal wie dieses Einzelgespräch verlaufen würde. Unweigerlich fragte sich Kira, ob sie die erste war, die einen Termin erhalten hatte. Bislang war Frau Baumbach noch niemand in das Besprechungszimmer gefolgt. Wie dem auch sei. Jetzt war erstmal Pause und sie brauchte dringend etwas zu Beißen.

„Ich glaube, mit unserer neuen Chefin haben wir richtig Glück“, hörte Kira Simone tuscheln, als sie die Küche betrat. Tina, die sich neben ihr gerade einen Kaffee zubereitete, stimmte ihr nickend zu. Auch Manuel meldete sich zu Wort: „Der erste Eindruck stimmt schon mal und ich bin überrascht, dass sie all die Fragen schon so gut beantworten kann. Sie scheint sich gründlich vorbereitet zu haben.“

Die Worte fühlten sich wie Sand zwischen Kiras knirschenden Zähnen an. Der Plan, ihrer neuen Chefin eins auszuwischen, schien wohl gründlich in die Hose gegangen zu sein.

„Und was hältst du von Frau Baumbach?“, wollte Tina von Kira wissen.

Kira wollte diese Frage auf keinen Fall beantworten. Stattdessen wollte sie sich einfach still in eine Ecke setzen und in Ruhe ihr Brötchen essen. Doch dann würden ihre lieben Kollegen nicht lockerlassen. Keine Antwort hieße automatisch, dass Kira etwas an der Frau auszusetzen hatte. Und so war es ja auch, aber das wollte sie den anderen nicht so offensichtlich auf die Nase binden.

„Ach, ich denke, sie ist ganz nett“, gab sie sich betont neutral, in der Hoffnung, mit dieser Aussage aus dem Schneider zu sein. Tina aber beäugte sie skeptisch, nahm direkt neben ihr Platz und packte ihre belegten Brote aus.

„Du kannst sie nicht ausstehen, weil sie dir den Job weggeschnappt hat, hab ich recht?“, flüsterte sie. Kira rollte mit den Augen.

„Ich bin über ihre Anwesenheit nicht gerade begeistert, das stimmt. Übrigens bin ich noch weniger begeistert darüber, dass du mit jedem über mich sprichst“, erhob Kira ermahnend eine Augenbraue.

„Jedem?“, erwiderte Tina patzig, „Ich spreche überhaupt nicht mit jedem über dich.“

„Ach, und warum drückt Frauke ihr Bedauern darüber aus, dass ich schon wieder übergangen wurde?“

Tinas Wangen erröteten. Verlegen wich sie Kiras Blick aus. „Das…das ist mir so rausgerutscht. Tut mir leid. Ich fand es halt so übel, dass sie dir die Stelle nicht gegeben haben. Da…da hab ich wohl geplappert…Aber ich hab wirklich nur mit Frauke gesprochen“, erwiderte Tina kleinlaut.

„Schon gut“, Kira wollte nicht weiter darauf rumreiten, denn es spielte jetzt ohnehin keine Rolle mehr.

„Habt ihr schon einen Termin für euer Gespräch?“

„Ich noch nicht. Und die anderen, glaub ich, auch nicht“, erwiderte Tina.

Kira lag mit ihrer Vermutung, die Erste zu sein, also nicht ganz falsch. War das Zufall oder hatte sich Frau Baumbach Kira bewusst zuerst raus gepickt? Immerhin hatte sie mit ihr noch ein Hühnchen zu rupfen. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sich Kira wohl doch ein wenig im Ton vergriffen, dass musste sie zugeben. Aber wer hätte denn auch ahnen können, wem sie da gegenüber gestanden hatte? Andererseits sollte Miss München über soviel Professionalität verfügen, dass sie Privates aus ihrer Beurteilung raus ließe.

Pünktlich um 12.30 Uhr betrat Kira den Besprechungsraum. Frau Baumbach hatte bereits den Stuhl am Ende des Tisches eingenommen und sortierte einen Stapel unterlagen. Als sie Kiras Erscheinen bemerkte, blickte sie zu ihr auf und schenkte ihr ein herzliches Lächeln.

„Da sind Sie ja. Schön. Nehmen Sie doch bitte Platz.“

Sie deutete auf den Stuhl schräg neben sich. Diese ganze Situation widerstrebte Kira derart, dass sie ihre Beine dazu zwingen musste, den Weg zu diesem Stuhl anzutreten. Am Freitag hatte sie noch gedacht, dass es schlimmer gar nicht werden konnte, hatte mühsam mit Pizza und Unmengen Chips ihre schlechte Laune kaschiert. Und nun das. Wenn sie doch wenigstens wüsste, was Miss München über die Situation dachte. Doch ihre freundliche Miene verriet nicht mal ein winziges Detail. Kira setzte sich und rückte mit dem Stuhl ein kleines Stück an den Tisch heran. Sie beobachtete, wie Frau Baumbach einige Blätter vor sich ausbreitete, bevor sie sich schließlich ihrem Gegenüber widmete.

„Nun, Frau Beck“, begann sie, „An sich war dieses Gespräch für ein erstes Kennenlernen gedacht. Doch wir beide kennen uns ja bereits“ Sie schmunzelte und sah Kira auffordernd an, womit sie ihre Gesprächspartnerin deutlich verunsicherte. Was sollte Kira erwidern? Erwartete sie denn überhaupt eine Antwort? Kira war unschlüssig, doch da Frau Baumbachs Sprechpause allmählich zu lang wurde, schien sie tatsächlich eine Antwort zu erwarten.

„Ja…ähm…Zufälle gibt’s“, krächzte Kira verlegen.

Oh mein Gott. Hatte sie das wirklich gerade gesagt? Die Frau musste glauben, einem totalen Vollposten gegenüberzusitzen.

„Ja und manchmal sind die Zufälle nicht gerade glücklich. Aber das macht nichts. Ich gehe davon aus, dass Sie ihr energisches Auftreten auch auf positive Weise nutzen können. Meinen Unterlagen zufolge gehören Sie zu den Leistungsträgern im Team. Stimmt das so?“

„Ähm…ja, vermutlich. Ist ja immer schwer, so etwas von sich selbst zu behaupten.“

Wie schaffte diese Frau es, Kira so in die Enge zu treiben? Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Aber gerade fühlte sie sich wie ein kleines Kind, das beim Rektor vorsprechen musste.

„Gut. Wie sie sicher selbst wissen, sind die Prozesse in jedem Unternehmen anders und so vielfältig, dass man als neuer Mitarbeiter unmöglich jeden Ablauf sofort erfassen kann. Ich habe zwei Bitten an Sie. Zum einen benötige ich eine schriftliche Dokumentation sämtlicher Arbeitsabläufe, die in unserem Team derzeit stattfinden. Außerdem möchte ich mich mit aufkommenden Fragen gern an Sie wenden, denn ich habe den Eindruck, dass Sie auch für ihre Kollegen die erste Anlaufstelle sind.“

Man konnte nicht behaupten, dass diese Frau keinen Scharfsinn besaß. Sehr zu Kiras Leidwesen. Denn das, was ihre Teamleiterin von ihr verlangte, widerstrebte ihr mehr, als sie es in Worte hätte fassen können. Lieber hätte Kira ihrem 85-jährigen Widerling von einem Nachbarn die Zehnägel geschnitten. Und das, obwohl sie es sogar hasste, ihre eigenen Zehnägel zu schneiden. Doch welche Wahl hatte sie schon? Noch hatte sie keinen anderen Job in Aussicht und solange musste sie zusehen, dass sie diesen behielt.

„Ja. Also…klar. Sie können mich gern fragen“, erwiderte sie widerwillig, aber bemüht freundlich.

„Prima. Dann habe ich meine Anliegen an Sie genannt. Gibt es umgekehrt etwas, das Sie wissen möchten? Oder haben Sie irgendetwas auf dem Herzen?“

Kira musste aufpassen, dass sie ihre Mimik im Griff behielt. Ob sie was auf dem Herzen hatte? Absolut. Doch sie glaubte kaum, dass Frau Baumbach ihr den Gefallen tat und sich für sie spontan in Luft auflöste.

„Nein. Alles ok“, war daher ihre knappe Antwort.

Kira sollte mit ihrer neuen Aufgabe, eine Dokumentation über die Team-internen Prozesse zu erstellen, sofort beginnen. Frau Baumbach hatte ihr eigens dazu einen Raum organisiert, in dem sie in Ruhe arbeiten konnte. Wäre diese Arbeitsanweisung nicht ausgerechnet von ihrer neuen Chefin erfolgt, hätte Kira die Aufgabe vielleicht sogar Spaß gemacht. Sie liebte Ordnung und arbeitete gern strukturiert. Frau Baumbach offenbar auch und Kira musste zugeben, dass ihr die Frau, die höchstens fünfundzwanzig war, mit ihrer zielstrebigen und klugen Art imponierte. Kira knurrte bei diesem Gedanken. Sie wollte diese Frau nicht mögen. Nein, Miss München würde Kira unter keinen Umständen von sich überzeugen.

Drei Tage hatte Kira für die Dokumentation gebraucht. Nachdem sie den Inhalt abschließend auf Fehler geprüft hatte, klickte sie zufrieden auf abspeichern. Kira war nicht dumm. Ihr war klar, dass sie sich mit dieser Datei abkömmlich machte. Doch sie wusste auch, dass ihre Kollegen viel zu bequem waren, um darin nach Antworten zu suchen. Sie würden weiterhin Kira belagern, da machte sie sich keine Sorgen. Sie öffnete das E-Mail-Programm und läutete mit dem Versenden ihres fertigen Werks an Frau Baumbach ihren Feierabend ein.

Wie jeden Mittwoch war sie auch heute mit Marlene verabredet. Seit Jahren trafen sie sich an diesem Tag der Woche, um zuerst irgendwo essen und danach gespannt und voller Erwartung in die Kino-Sneak-Preview zu gehen. Marlene hatte diesmal das kleine Steak-Restaurant direkt bei ihr um die Ecke vorgeschlagen. Deshalb trafen sie sich vorher bei ihr.

Als Kira am frühen Abend den Hausflur des mehrstöckigen Altbaus betrat, musste sie sich an einigen Möbeln, die das Fußende der Treppe blockierten, vorbei hangeln. Scheinbar hatte sich bereits ein Nachmieter für die Wohnung neben Marlene gefunden. Bei Kiras letztem Besuch hatte sich Kai, der sein Studium dieses Jahr beendet hatte und nun nach Karlsruhe umgezogen war, bei ihr verabschiedet. Hoffentlich hatte Marlene mit ihrem neuen Nachbarn wieder so viel Glück.

Kira klingelte an Marlenes Wohnungstür. Doch nichts passierte. Vermutlich war Marlene mal wieder im Bad und föhnte sich die Haare. Ihr Blick fiel auf die angelehnte Nachbartür. Durch sie drang gedämpftes Stimmengemurmel. Vermutlich der neue Nachbar mit seinen Umzugshelfern. Sie wollte gerade einen neugierigen Blick riskieren, da öffnete sich unverhofft Marlenes Tür.

„Ach. Hab ich doch richtig gehört. Ich war gerade im Bad“, bestätigte Marlene Kiras Vermutung, „Komm rein. Ich bin noch nicht ganz fertig.“

Marlenes Einrichtungsstil war sehr speziell. Sie besaß eine ausgeprägte Sammelleidenschaft, für die sie regelmäßig sämtliche Flohmärkte im Umkreis abgraste. Bunte Vasen, alte Bilderrahmen und vor allem ausgefallene Lampen waren es, worauf sie es abgesehen hatte. Für Kira war es unerklärlich, wie es Marlene gelang, immer mehr Kram anzuhäufen, ohne im völligen Chaos zu versinken. Doch obwohl die Wohnung absolut nicht ihrem Stil entsprach, fand Kira sie äußerst gemütlich und sie mochte Marlenes Liebe zum Detail. Besonders heimelig wurde es, wenn, wie jetzt, Marlenes über die Jahre gesammelte Weihnachtsdeko zum Einsatz kam. Kira hatte es dagegen nicht mal geschafft, ihre Fensterdeko zu montieren. Ihr stand dieses Jahr noch überhaupt nicht der Sinn nach Weihnachten. Was unter anderem daran lag, dass sie auch dieses Jahr den Jahreswechsel als Single verbringen würde. Manchmal glaubte sie, unter einem bösen Weihnachtsfluch zu stehen. Es war nicht so, als hätte sie in den letzten paar Jahren keine Beziehung geführt. Doch hielten sie immer nur über die Sommermonate, höchstens jedoch bis in den späten Herbst hinein. Und dann. Kam es zum Knall. Die Gründe waren vielfältig. Mal wurde mit ihr schlussgemacht, mal war es umgekehrt. Ihren Wunsch, die Weihnachtstage an der Seite einer Frau verbringen zu können, hatte Kira inzwischen zu den Akten gelegt.

„Du hast ja schon wieder einen neuen Nachbarn“, rief Kira in Richtung Bad.

„Ja. Es ist wohl eine Frau. Ich habe sie aber noch nicht kennengelernt“, erwiderte Marlene.

„So ein Pech für Steffi“, lachte Kira und dachte an Marlenes langjährige Nachbarin von unten.

„Ja, oder? Dabei war es für sie so bequem, ab und zu auf ein Stelldichein bei Kai vorbeizuschneien. Jetzt muss sie ihm wohl entweder hinterherziehen oder, wenn sie Liebesleben unbedingt weiter in Kais alter Wohnung stattfinden lassen will, ihre Liebe für Frauen entdecken.“

„Oh, bitte nicht. Mir reicht es schon, dass Katja neuerdings am gleichen Ufer fischt. Mehr Konkurrenz kann ich nicht gebrauchen.“

Marlene betrat das Wohnzimmer.

„Na ja, sie ist ja keine Konkurrenz, solange sie nach dir fischt“, grinste sie.

Kira rollte genervt mit den Augen.

„Hör mir bloß damit auf. Ich hoffe, ihre amourösen Anwandlungen verflüchtigen sich bald wieder. Bis dahin versuche ich, einen Bogen um sie zu machen.“

„Erstens bist du selbst schuld und zweitens muss ich dir diese Hoffnung nehmen, denn sie wird am Freitag natürlich auch kommen.“

Ach ja, da war ja noch etwas. Marlenes Geburtstag. Den hätte Kira auch dieses Jahr beinahe vergessen.

„Echt? Ist es schon wieder soweit?“

„Ja, wie immer am 13. und diesmal sogar an einem Freitag“, schmunzelte Marlene.

„Uh. Wenn das kein schlechtes Omen ist. Wie gut, dass ich an sowas nicht glaube“, lachte Kira.

„Nicht daran zu glauben, rettet dich im Zweifel auch nicht. Wollen wir los?“

Kira nickte.

Hundemüde und völlig überfressen von Steak, Pommes und Unmengen an Kino-Popcorn fiel Kira gegen halb zwei ins Bett. Sie musste das ständige über die Stränge schlagen langsam wieder in den Griff bekommen, denn die heiklen Feiertage standen ja erst noch bevor. Wie gut, dass sie morgen ihren Zumba-Kurs gab. Eine gute Gelegenheit, die Sünden der vergangenen Tage wegzutrainieren.

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