Paulas Träume – Ein lesbischer Roman

Cover Paulas Träume - Ein lesbischer Roman

Kurzbeschreibung:

Seit dem Tag, an dem Paula für ein Praktikum in die USA gereist ist, vergeht keine Nacht, in der ihr nicht das hübsche Gesicht dieser geheimnisvollen Frau im Traum erscheint. Diese sich ständig wiederholende, nächtliche Begegnung macht sie beinahe verrückt, denn Paula versteht partout nicht, was ihr Unterbewusstsein mitzuteilen versucht. Selbst ihre Mitbewohnerin und beste Freundin, die sie bereits seit Schultagen kennt, weiß keinen Rat. Wenigstens in ihrem Praktikum läuft es wie am Schnürchen, bis sie an einem Morgen, kurz vor einem wichtigen Kundenbesuch, die Kaffeemaschine außer Betrieb setzt. Schnell braucht sie einen rettenden Gedanken. Da erinnert sie sich an das Café gegenüber der Agentur. Als sie dort in das Gesicht der Frau hinter dem Tresen blickt, kann Paula kaum glauben, wen sie da vor sich hat. Doch wenn sie glaubt, endlich Antworten auf Ihre Träume zu finden, irrt sie sich gewaltig. Diese Begegnung ist erst der Auftakt einer emotionalen Reise, auf die sich Paula zunächst eher widerwillig begibt.

Leseprobe

Kapitel 1

„Paula, wach auf!“

Das durchdringende Dröhnen des Weckers riss Paula unsanft aus ihrem Schlaf, gefolgt von einem Kissen, das direkt in ihrem Gesicht landete. Angestrengt öffnete sie die Augen, was ihr heute ungewöhnlich schwer fiel, und blickte in das genervte Gesicht ihrer besten Freundin, die gerade an dem Wecker rumhantierte, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen.

„Wieso höre ich das blöde Ding, als würde es auf meinem Nachttisch stehen, aber du rührst dich keinen Millimeter?“

„Wie spät ist es?“ Beinahe panisch griff Paula nach dem Wecker und versuchte die LED-Anzeige zu fokussieren.

„Verdammt, verdammt, verdammt“, schrie sie panisch, sprang aus ihrem Bett und hastete ins Bad.

Es war der Montagmorgen, an dem sie ihr Praktikum in einer New Yorker Werbeagentur beginnen sollte. Bei dem Bewerbungsgespräch war ihr unmissverständlich klar gemacht worden, dass ihr Chef Wert auf Pünktlichkeit legte. Und sie durfte das Praktikum keinesfalls vermasseln, denn ihr Vater hatte seine Beziehungen spielen lassen. Er und Paulas Chef Mr. James waren damals in Deutschland gemeinsam auf einem Army-Stützpunkt stationiert gewesen. Während Mr. James anschließend wieder in die USA gegangen war, hatte Paulas Vater in Deutschland seine Liebe gefunden und eine Familie gegründet.

Paula, das Ergebnis dieser Liebe, war mittlerweile 23 Jahre alt und studierte in Deutschland Internationales Marketing. Die Möglichkeit auf ein Praktikum in den USA war der absolute Jackpot gewesen und die perfekte Referenz, mit der sie sich im späteren Arbeitsleben einen Vorteil erhoffte. Ihre zweisprachige Erziehung, auf die ihr Vater von klein auf bestanden hatte, kam ihr natürlich ebenfalls zugute. Ihr Englisch war nahezu perfekt, nur bei genauem Hinhören ließ sich vermuten, dass sie in keinem englischsprachigen Land aufgewachsen war. Doch all diese idealen Voraussetzungen halfen ihr im Moment nicht, denn die Zeit lief gerade gegen sie. Ihr blieben noch etwa 20 Minuten, spätestens dann musste sie sich auf den Weg machen, damit sie gerade noch pünktlich bei ihrem Arbeitgeber eintreffen würde. Die Zeit unter der Dusche wollte sie nutzen, um sich in Gedanken einen kleinen Ablaufplan zu erstellen. Doch ihre Gedanken fanden es gerade wesentlich sinnvoller, ihr die Bilder der vergangenen Nacht zu präsentieren.

„Schon wieder dieser Traum“, seufzte sie, denn allmählich wurde sie diesen Traum leid. Sie überlegte. Es waren jetzt geschlagene fünf Tage, an denen sie exakt das Gleiche geträumt hatte. Gut, der Ablauf variierte vielleicht, doch die Person, die Paulas Unterbewusstsein kreiert hatte, war immer dieselbe. Paula kannte die Frau nicht. Sie entsprang ihrer Fantasie, was für einen Traum sicher nichts Ungewöhnliches war. Doch diese hartnäckigen Wiederholungen waren es, die Paula mittlerweile beunruhigten. Das Gesicht der Frau hatte sich inzwischen so tief in Paulas Kopf eingebrannt, dass sie sie blind hätte zeichnen können. Jedes Detail, jede Haarsträhne hatte sie genau vor Augen. Aber besonders das kleine Muttermal auf der linken Wange machte dieses ansonsten völlig makellose Gesicht unverwechselbar. Sie war bildschön. Ihre dunklen Augen waren ausdrucksstark und blickten sie jedes Mal herausfordernd an. Doch verstand Paula noch immer nicht, was sie ihr mit ihrem Blick sagen wollte.

Paula hatte Mark von ihren Träumen erzählt. Seiner Meinung nach stand die Unbekannte symbolisch für Paulas bevorstehende Zeit, für das Unbekannte, das sie in ihrem Praktikum zu erwarten hatte. Vielleicht standen die Träume aber auch für die Stadt New York, die sie ebenfalls zum ersten Mal besuchte und die für sie entsprechend unbekanntes Terrain darstellte. Vermutlich hatte ihr Freund recht damit, was auch sonst sollte es mit diesem Traum auf sich haben?

Mark war erst seit kurzem ihr Freund. Sie kannte ihn seit Beginn ihres Studiums, doch erst vor etwa einem Monat hatte es zwischen ihnen gefunkt. Nun mussten sie die acht Wochen Praktikum mit Videochatten und häufigen Telefonaten überbrücken.

Paula war seit einer Woche in New York. Da sie bis dahin reichlich Zeit hatte, von einigen Ausflügen mit Mary mal abgesehen, hatte sie sich mit ihrem Liebsten häufig austauschen können. Ab heute würde sich das ändern, denn einen Großteil ihrer Zeit würde sie von nun an in der Agentur verbringen. Sie hatten sich darauf geeinigt, ab sofort nur noch am Abend wenigstens kurz miteinander zu telefonieren.

Paula hastete aus dem Bad. Zum Glück hatte sie sich bereits am Vorabend ihre Kleidung bereitgelegt und würde beim Ankleiden kaum Zeit vergeuden müssen. Im Flur warf sie noch einen kritischen Blick in den Spiegel, war aber im Großen und Ganzen mit ihrem Äußeren einverstanden. Mary hatte es sich derweil mit einem Kaffee in der Küche bequem gemacht, streckte ihren Hals Richtung Flur und segnete Paulas Outfit ebenfalls mit einem zufriedenen Nicken ab.

„Nun los, du bist noch gerade im Zeitplan“, hielt sie Paula zur Eile an.

„Ja, ist ja schon gut“, rief Paula im Gehen, stopfte sich noch schnell einen Apfel und eine Banane in die Tasche und lief zur Haustür.

„Und viel Erfolg für deinen ersten Tag!“, rief Mary ihr hinterher, bevor die Tür ins Schloss fiel.

An den Berufsverkehr musste sich Paula noch gewöhnen. Das Rege treiben an den Haltestellen war nichts im Vergleich zu ihrem üblichen Weg in Deutschland, wenn sie zur Uni fuhr. Damit sie heute nicht panisch nach einer passenden U-Bahn-Verbindung suchen musste, war sie vor zwei Tagen mit Mary schon einmal die Strecke zu ihrer Arbeitsstelle abgefahren. Doch das war zu einer weniger verkehrsreichen Uhrzeit gewesen und nun musste sie sich genau auf die Beschilderung konzentrieren, um am Ende nicht in die falsche U-Bahn einzusteigen. Doch alles klappte nach Plan. Als sie sicher war, sich in der richtigen U-Bahn zu befinden, atmete sie erleichtert aus. Sogar einen Sitzplatz hatte sie ergattern können. Die Fahrt bot ihr genügend Zeit, um Mark eine kurze Nachricht zu schicken. Bei ihm war der Tag längst angebrochen, er war also definitiv wach und mit etwas Glück würde er ihre Nachricht sofort lesen.

Hi Schatz, bin in der U-Bahn. Sogar pünktlich. Einem erfolgreichen ersten Tag steht bislang also nichts im Wege. Kuss P.

Kaum eine Minute später erhielt sie die Antwort: Das freut mich. Und ich drück dir für heute die Daumen. Kuss zurück.

Erfreut über Marks Antwort, packte sie das Handy zurück in ihre Tasche und wartete auf ihre Zielhaltestelle. Von dort waren es noch etwa zehn Minuten zu Fuß und da sie noch in ihrem Zeitplan war, musste sie sich nicht überaus beeilen, um pünktlich im Büro zu erscheinen. Rechtzeitig erreichte sie das imposante Bürogebäude, dass ihr mittels einer Drehtür Zugang in den großzügigen Eingangsbereich gewährte. Das mehrstöckige Haus beherbergte etliche Firmen, die sich in den verschiedenen Etagen eingemietet hatten. Darunter, als eines der größten Unternehmen galt die Agentur James & Partner. Das große silberne Logo der Agentur, das direkt über dem Eingang prangte, ließ darüber keine Zweifel entstehen.

Sie nahm den Fahrstuhl in den vierten Stock. Die Fahrstuhltür öffnete sich geräuschlos und gab den Zutritt zu den Büros frei. Der Empfang war noch unbesetzt, also passierte sie ihn und begab sich zuerst zum Büro des Chefs. Sie war bei ihrer Ankunft in der vergangenen Woche auf direktem Weg mit einem Taxi vom Flughafen zur Agentur gefahren, um sich persönlich vorzustellen. Im Vorfeld hatten die beiden ein Bewerbungsgespräch über Videochat geführt, was sich für Paula seltsam und unpersönlich angefühlt hatte. Mr. James war es offensichtlich ebenso ergangen, deshalb hatte er auf ein Kennenlernen von Angesicht zu Angesicht vor Antritt des Praktikums bestanden.

Das Büro von Mr. James befand sich, wie Paula bereits wusste, am Ende des Ganges. Auf dem Weg dahin begegnete Paula einigen Kollegen, die sie freundlich mit Namen begrüßten und sie willkommen hießen. Ganz offensichtlich wurde sie im Vorhinein bei den Mitarbeitern angekündigt, was sie als durchaus wertschätzend empfand. Schließlich war sie nur eine kleine Praktikantin und hatte nicht damit gerechnet, dass überhaupt irgendjemand Notiz von ihr nahm. Sie erreichte Mr. James Büro und da seine Tür nur angelehnt war, ging sie davon aus, dass er bereits da war. Sie klopfte vorsichtig am Türrahmen, woraufhin prompt eine tiefe Stimme sie um Eintritt bat. Paula folgte der Anweisung und betrat das Büro. Mr. James war ganz in seine Arbeit vertieft und hatte seinen Blick konzentriert auf den Monitor gerichtet, weshalb Paula nicht recht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Sie entschied sich, vor seinem Schreibtisch stehen zu bleiben. Als Mr. James kurz darauf zu ihr aufsah, hellte sich seine Miene auf und er gab ihr mit einer Geste zu verstehen, Platz zu nehmen.

„Paula, schön, dass du da bist. Nun, heute geht es ja dann endlich los für dich.“

Paula lächelte schüchtern. Sie wusste von ihrem Vater, dass Mr. James ein gutherziger Mensch und freundlicher Chef war. Seine äußere Erscheinung wirkte auf Paula dennoch einschüchternd. Mit seinen knappen zwei Metern Körpergröße und seinen breiten Schultern überragte er sogar die meisten Männer. Da konnte Paula mit ihren winzigen ein Meter neunundsechzig erst recht nicht mithalten. Die tiefe, sonore Stimme komplettierte seine beeindruckende Erscheinung und gab ihm eine natürliche Autorität.

„Guten Morgen Mr. James, ich freue mich, hier sein zu dürfen und bin schon sehr auf die kommenden Wochen gespannt.“ Paula wollte selbstbewusst klingen, spürte aber, wie ihre Stimme vor Nervosität zitterte.

„Paula, nenn mich doch bitte Peter. Wir nennen uns hier alle beim Vornamen. Ist in der Branche so üblich“, lächelte er freundlich.

„Gerne, Peter.“ Seine offene Art ließ ihre Nervosität verebben und Paula glaubte, mit der Wahl ihres Praktikums eine richtige Entscheidung getroffen zu haben.

„So, ich werde dir mal einen kleinen Überblick über deine bevorstehenden Aufgaben verschaffen.“ Während er sprach, sortierte er einige Unterlagen auf seinem Schreibtisch. „Du wirst mit Melissa zusammenarbeiten. Sie betreut derzeit ein interessantes Projekt für einen unserer besten Kunden. Das Projekt ist bereits in vollem Gange. Zufällig findet heute ein Meeting mit dem Kunden statt. Wir werden ihm die ersten Entwürfe für seine Kampagne vorstellen. Um zehn Uhr geht’s los, bis dahin müssen noch ein paar Kleinigkeiten vorbereitet werden. Ich bin sicher, dass du Melissa dabei unterstützen kannst.“

Er erklärte ihr außerdem, dass der Kunde, eine bekannte Traditionsbrauerei, mit dieser Werbekampagne ein jüngeres Image erzielen und somit eine neue Zielgruppe ansprechen wollte.

„Melissa ist vermutlich schon da, frag sie einfach, wie du ihr helfen kannst.“ Er erklärte ihr, wo sie Melissa finden würde und entließ Paula anschließend aus seinem Büro.

Schnell konnte sie die Projektmanagerin ausfindig machen. Bereits aus der Ferne konnte sie beobachten, wie die blonde Frau hektisch in ihren Unterlagen kramte und abwechselnd zwischen Monitor und den vor ihr liegenden Blättern hin und her blickte.

„Melissa?“

Sie sah irritiert auf. „Ja?“

„Hallo, ich bin Paula Becker, die neue Praktikantin.“ Paula streckte ihr die Hand entgegen.

Melissa sah sie unschlüssig an. Scheinbar wusste sie Paula nicht recht einzuordnen, doch plötzlich schien der Groschen zu fallen. Die Stirnfalten wichen einem Lächeln und Melissa griff nach Paulas Hand.

„Ach, natürlich. Peter hatte dich schon angekündigt. Bitte entschuldige, heute findet ein wichtiges Meeting statt und ich hab noch so viel vorzubereiten.“

„Peter hat mich schon ins Bild gesetzt. Ich hoffe, ich kann dir einen Teil abnehmen.“

Paula schätzte Melissa auf Anfang vierzig. Ihr Outfit war klassisch und elegant. Mit ihren hochgesteckten Haaren und dem für Paulas Geschmack etwas zu stark geschminkten Gesicht, machte sie sich älter, als sie vermutlich war. Auf Paula machte sie den Anschein streng, aber fair zu sein.

„Ja, da habe ich direkt einiges, was du tun kannst. Zuerst müssen die Plakate für die Präsentation ausgedruckt werden. Hier habe ich einen USB-Stick. Damit gehst du in den dritten Stock zu Dan. Er ist hier für die Drucke zuständig. Lass bitte alles dreifach drucken und bringe sie dann in den Meetingraum 3. Dort wirst du mich dann finden, damit ich dir alles Weitere erklären kann, ok?“

„Alles klar“, nickte Paula und machte sich sofort auf den Weg. Dieser Aufgabe sollte sie wohl gewachsen sein. Sie hoffte inständig, dass sie in den nächsten Wochen noch anspruchsvollere Aufgaben übernehmen durfte. Für ihren ersten Tag war sie über den sanften Einstieg in ihre neue Arbeitswelt allerdings sehr dankbar.

Der dritte Stock war weitaus weniger imposant als die beeindruckende vierte Etage. Sicher fanden hier keine Kundentermine statt. Es stapelten sich Kartons und aufgerollte Plakate an den Wänden und auch die Schreibtische quollen über vor Papieren und Drucken. Außerdem arbeiteten hier weitaus weniger Menschen, als in den Büroräumen. Sie hatte Mühe überhaupt jemanden anzutreffen, um sich nach Dan zu erkundigen. Den Kollegen, der gerade aus einer Mitarbeitertoilette heraustrat, sprach sie an: „Entschuldige, ich suche Dan.“

Der etwas schusselig wirkende Brillenträger blickte verschüchtert auf und grinste angestrengt.

„Der ist hinten bei der Maschine.“ Er deutete auf eine Tür am Ende des Raumes.

„Danke.“ Paula hörte bereits aus der Entfernung ein lautes Klacken und Surren hinter der Tür. Als sie öffnete, sah sie einen kleinen, dicklichen Mann mit Halbglatze an eine Maschine hantieren.

„Dan?“, rief sie nach ihm. Doch die Druckmaschine war so laut, dass er sie nicht hörte. Also ging sie auf ihn zu und tippte auf seine Schulter. Er zuckte merklich zusammen und wandte sich hastig nach ihr um.

„Oh, sorry, ich hab dich gar nicht bemerkt“, antwortete er mit seiner kratzigen Stimme.

„Mir tut es leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Kein Problem, Mädchen. Was kann ich für dich tun?“

Paula nannte ihr Anliegen, erklärte, dass sie von Melissa geschickt wurde, woraufhin sich seine Miene verfinsterte.

„Melissa, sagst du?  Mal wieder typisch, alles auf den letzten Drücker“, seufzte er.

„Ich hab jetzt noch ein paar andere Drucke in der Warteschlange. Das kann ich nicht unterbrechen. Selbst wenn ich auf meine Kaffeepause verzichte, sind die Plakate frühestens in einer Stunde fertig.“

Paula sah auf die Uhr. Demnach wären die Plakate um zwanzig nach neun fertig. Theoretisch sollte das reichen. Ob aber Melissa mit dieser Uhrzeit einverstanden war, konnte Paula nicht beantworten. Um sicher zu gehen wollte sie das mit ihrer Vorgesetzten abstimmen.

„Kann ich von hier mit Melissa telefonieren?“

„Nebenan ist ein Telefon. Die Kurzwahltasten sind beschriftet, einfach Hörer nehmen und draufdrücken.“

„Dan?“, schallte es durch den Hörer.

„Nein, Paula hier. Ich habe eine Frage.“ Sie gab an Melissa weiter, was Dan ihr erklärt hatte.

„Ach, dieser unsägliche Dan wieder. Er soll Gas geben. Bleib bitte so lange bei ihm. Nicht, dass er auf die Idee kommt, noch einen anderen Auftrag vorzuziehen“, zischte Melissa genervt. Offenbar herrschte ein kleiner Zwist zwischen den beiden. Paula wollte die negative Stimmung nicht zusätzlich befeuern. Deshalb ließ sie es Dan gegenüber so klingen, als wäre es Paulas Idee gewesen, hier unten auf die Drucke zu warten. Sein skeptischer Blick verriet jedoch, dass er ganz genau wusste, woher Paula ihre Anweisung erhalten hatte. Zwischen dem Lärm der Druckmaschine meinte sie ihn „dieses anstrengende Weibsbild, gönnt einem nicht mal seine Kaffeepause“ murmeln gehört zu haben.

„Und du bist neu hier?“, fragte Dan nach einiger Zeit.

„Ja, heute hat mein Praktikum angefangen. Für die nächsten acht Wochen werden wir Kollegen sein.“ Irgendwie freute sich Paula über Dans Interesse.

„Ah, eine Praktikantin. Vielleicht bist du ja dann häufiger mal im Keller“, lachte er sarkastisch.

„Im Keller?“, wiederholte Paula fragend.

„Ach so. Natürlich verstehst du kein Wort“, Dan kratzte sich am Hinterkopf. „Wir sind der Keller. Die Bezeichnung ist ein altes Relikt. Früher war die Agentur ein paar Straßen weiter und da war unsere Abteilung im Keller. Na ja, der Name ist geblieben und so mancher da oben meint es sicher auch so abwertend wie es klingt. Aber mir gefällt es hier. Da oben sind mir zu viele aufgeblasene Schnösel, wenn du weißt, was ich meine.“ Er sah Paula erwartungsvoll an. Offenbar rechnete er mit ihrer Zustimmung. Paula jedoch war die Situation unangenehm und sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie versuchte es mit einem neutral klingenden „Mhm“. Endlich begriff Dan, in welche Zwickmühle er sie da gebracht hatte: „Hast recht Mädchen. Halt dich da am besten raus. Bist ja nur ein paar Wochen da“, zwinkerte er ihr zu. Sie fand Dans muffelige Art überaus sympathisch und insgeheim musste sie zugeben, dass sie mit ihm wohl mehr anfangen konnte als mit Melissa. Trotzdem behielt sie diese Information für sich, denn sie wollte sich offiziell weder auf die eine, noch die andere Seite schlagen.

Paula vertrieb sich die Wartezeit, indem sie in einigen Broschüren blätterte, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Sie zeigten einen Kaffeehersteller, der seine hochexklusive Kaffeesorte anpries und damit warb, eine der führenden Kaffeeketten zu beliefern. Paula mochte Kaffee nicht besonders, aber sie liebte den Geruch. Er erinnerte sie an früher, als ihr Vater immer sonntagmorgens für alle Frühstück gemacht hatte. Sie und ihr kleiner Bruder durften sich immer am Abend vorher ihre Lieblingsbrötchen wünschen und wenn sie am nächsten Morgen die Küche betraten, stand schon alles bereit.

„So, alles fertig.“ Dan hielt ihr die aufgerollten Plakate entgegen.

„Schon fertig?“, fragte Paula überrascht. Sie blickte über Dans Schulter und sah, dass es erst kurz nach neun Uhr war.

„Ja, ich hab doch noch was aus der Warteschlange geworfen. Nicht, dass du Stress mit der gnädigen Dame bekommst“, grinste er.

„Danke Dan, das ist echt furchtbar nett von dir“, bedankte sich Paula. Sie schnappte sich die Plakate, verabschiedete sich und machte sich auf den Weg nach oben. Bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich noch mal um: „Das nächste Mal bringe ich dir ‘nen Kaffee mit.“

„Mach das, Mädchen.“

Oben steuerte Paula direkt Meetingraum Nummer drei an. Den hatte sie am Morgen beim Vorbeigehen bereits entdeckt, so dass sie ihn nun nicht lange suchen musste. Melissa hatte die Präsentationsunterlagen bereits auf dem Tisch verteilt und blickte erleichtert auf, als sie Paula mit den Plakaten unter dem Arm sah: „Oh, da bist du ja. Doch früher als gedacht. Ich wusste doch, dass der olle Dan wieder übertrieben hat.“

Paula ließ Melissas Aussage unkommentiert.

„Wo gehören die Plakate hin?“

„Ach ja. Pack sie erstmal zu drei Sätzen zusammen. Ein Satz kommt an den Flipchart. Achte auf die Reihenfolge, unten rechts befinden sich Nummern. Die anderen zwei Sätze kannst du auf den Tisch in der Ecke legen.“

Nachdem das erledigt war, half Paula noch bei einigen weiteren Handgriffen und sollte zum Schluss noch Getränke und Kaffee aus der Küche holen. Als sie die Küche betrat, bot sich ihr ein unerwartetes Bild. Eine junge Frau versuchte mit einem Geschirrtuch die Kaffeemaschine zu bändigen, die aus allen Öffnungen Dampf ausstieß. Es wirkte wie ein Kampf zwischen Maschine und Mensch. Jedes Mal, wenn die junge Frau einen Hahn zudrehte, spie der Automat an einer anderen Stelle neuen Dampf aus.

„Shit, shit, shit!“, schrie die Frau völlig aufgelöst. „Das scheiß Ding macht es schon wieder!“

Paula blickte zur Wand und entdeckte die Steckdose, über die der Kaffeeautomat angeschlossen war. Kurzentschlossen zog sie den Stecker und das Ungetüm war schlagartig erlegt. Völlig verdutzt drehte sich die rotblonde Dame um.

„Was? Wieso? Wie hast du das gemacht?“

„Ähm, ich hab den Stecker gezogen. Das Ding scheint ja kaputt zu sein.“ Paulas Gegenüber sammelte sich kurz bevor sie zu einer Antwort ausholte. Ihr Tonfall klang plötzlich arrogant und schnippisch: „Ja, ganz offensichtlich ist das Ding kaputt. Spätestens jetzt, wo du den Stecker gezogen hast.“ Sie deutete auf ein kleines Schild an der Seite der Maschine: Stecker niemals während des laufenden Betriebs ziehen. Paula lief rot an.

„Ja, aber… es war doch vorher schon etwas nicht in Ordnung“, stotterte sie.

„Ach ja? Das kannst du ja gern dem Chef erzählen.“ Mit diesen Worten verließ sie die Küche und ließ Paula mit dem defekten Automaten zurück. Was um alles in der Welt war das denn? Paula sah dem unangenehmen Rotschopf verdattert nach. Hatte sie tatsächlich etwas falsch gemacht? Und was sollte Paula jetzt tun? Sie sollte für den Kaffee sorgen und jetzt war das blöde Ding außer Betrieb. Sie sah auf die Uhr, es war bereits 9:40 Uhr. Gleich würde der Kunde auf der Matte stehen. Sie musste umgehend Melissa informieren, dass die Kaffeemaschine bis zu Beginn des Termins ganz sicher keinen Kaffee ausspucken würde. Paula konnte sich Melissas begeistertes Gesicht bereits jetzt schon vorstellen. Eilig hastete sie zurück zum Meetingraum.

„Melissa, der Kaffeeautomat ist kaputt. Wir haben keinen Kaffee“, rief sie gehetzt.

„Verdammt, das ist völlig inakzeptabel. Der Kunde besteht auf seinen Kaffee. Wir brauchen hier sofort eine Lösung.“ Melissas Stresspegel schoss schlagartig nach oben, so dass sich auf Gesicht und Hals rötliche Flecken abzuzeichnen begannen. Paula versuchte, nicht darauf zu starren, damit sie ihre Vorgesetzte nicht noch mehr verunsicherte.

„Ja, ähm, ok. Gegenüber habe ich heute Morgen einen Coffee Shop gesehen, wenn ich mich also beeile…“, schlug Paula vorsichtig vor, weil sie nicht sicher war, ob die Idee gut war.

Melissa sah sie einen Moment wortlos an.

„Gib Gas!“

Als wäre das der Startschuss bei einem Marathon, rannte Paula los. Natürlich war der Aufzug gerade im obersten Stock und fuhr in aller Gemütlichkeit von Etage zu Etage. Sie verschränkte die Arme und wippte ungeduldig mit dem Fuß, während sie auf das Display oberhalb der Aufzugtür starrte. Das dauerte alles viel zu lang. Also nahm Paula ihre Beine in die Hand und schwang sich das Treppenhaus hinunter. Sie war zwar recht sportlich, aber mit diesem Druck im Nacken geriet auch sie bald außer Puste. Aber für Verschnaufpausen war keine Zeit.  Endlich war sie unten angekommen. Jetzt musste sie nur noch die Straße überqueren, was bei dem New Yorker Verkehrsaufkommen keine leichte Aufgabe war. Sie lauerte einen Moment und erkannte eine Lücke zwischen den fahrenden Autos, durch die sie schließlich auf die gegenüberliegende Straßenseite gelang. Jetzt trennte sie von dem dringend benötigten Kaffee nur noch die Eingangstür des Ladens.

Doch weit gefehlt. Als sie die Tür zum Coffee Shop aufzog, blickte sie auf eine Schlange von mindestens zehn Leuten. Das würde sie niemals rechtzeitig schaffen. Sie überlegte kurz. Es würde unangenehm werden, aber sie musste tun, was nötig war: „Entschuldigung, das ist heute mein erster Tag in meinem neuen Job und wenn ich nicht in 15 Minuten den Kaffee in dem Meeting habe, wird das wohl auch mein Letzter sein.“

Der Mann vor ihr blickte sie irritiert an, ließ sie aber tatsächlich vor. Dasselbe sagte sie zu ihrem neuen Vordermann und so fragte sie sich Stück für Stück bis nach vorne durch. Sie wollte ihre Endlosschleife gerade ein weiteres Mal wiederholen, da begriff sie, dass sie bereits vor dem Tresen stand. Sie sah auf und als sie in das Gesicht dieser jungen Frau blickte, traf es sie wie ein Blitz. Da stand sie, die Frau aus Paulas Träumen.

Kapitel 2

Paralysiert starrte Paula auf die attraktive Unbekannte, deren Gesicht ihr so vertraut war, als begegnete sie einer alten Freundin. Genau wie die Frau im Traum trug sie dieses kleine, charmante Muttermal auf ihrer rechten Wange, das sie so unverwechselbar machte. Ihre mandelförmigen Augen waren schwarz wie die Nacht und ihr symmetrisches Gesicht mit der makellosen, sonnengebräunten Haut zierte das schönste Lächeln, das Paula je gesehen hatte.  Paulas Kopf schwirrte. Ihr Blickfeld hatte sich zusammengezogen, so dass sie rund um die unbekannte Frau alles verschwommen wahrnahm. Genau wie in ihren Träumen.

„Ma’am? Alles ok mit Ihnen?“ Die Stimme der Frau klang in Paulas Ohren weit entfernt, dennoch drang sie langsam in Paulas Bewusstsein durch. Paula schüttelte ihren Kopf aus der Erstarrung.

„Ähm, ja, ähm. Ich brauch Kaffee“, stammelte sie.

Ihr Gegenüber schmunzelte amüsiert: „Das habe ich mir fast gedacht. Sie sind schließlich in einem Café. Aber welchen möchten Sie? Und in welcher Größe?“ Die Frau deutete auf das Schild hinter sich, auf dem unzählige Sorten und Variationen an Kaffees aufgelistet waren. Paula vernahm wiederholtes Stöhnen und Gemurmel hinter sich. Die Kunden, die ihr eben noch so freundlich den Vortritt gelassen hatten, schienen ihre Entscheidung allmählich zu bereuen. Ohnehin drängte die Zeit, das Meeting würde in wenigen Minuten starten. Sie überschlug im Geiste die Anzahl der Sitzplätze des Meetingraums, schlug zur Sicherheit noch zwei Kaffee drauf und gab ihre Bestellung ab. Die Frau hinter dem Tresen machte sich umgehend an die Arbeit, was Paula die Gelegenheit gab, einen Moment Luft zu holen. Allerdings konnte sie keine Sekunde ihren Blick von der Frau abwenden und obwohl die Dunkelhaarige beschäftigt war, schien sie Paulas Blicke zu bemerken. Immer wieder blickte sie auf und schenkte Paula ein verstohlenes Lächeln. Als sie die Bestellung abgearbeitet hatte, schob sie die Becher, die sie in einem Karton fixiert hatte, zu Paula über die Theke.

„Macht 45,50 Dollar.“

Paula griff ganz selbstverständlich nach ihrer Handtasche, die sie meist über ihre linke Schulter trug. Doch ging ihr Griff diesmal ins Leere. Sie langte sich fassungslos an die Stirn. In der Eile war sie tatsächlich ohne ihr Geld losgerannt. Könnte der Tag noch schlimmer werden? Was sollte sie jetzt tun? Verzweifelt kramte sie in ihren Hosentaschen nach Geld, obwohl sie bereits wusste, nichts finden zu können.

„Wie heißt du?“, wurde sie von der Kaffeeverkäuferin in ihrer Suche unterbrochen. Paula blickte irritiert auf. Wieso wollte sie das wissen? Wollte sie etwa die Polizei rufen?

„Paula“, murmelte sie kaum verständlich.

„Ich bin Clementine. Es ist alles in Ordnung, also beruhig dich erstmal. Hast du irgendwas, das du mir als Pfand hinterlegen kannst? Dann zahl einfach später.“ Paula überlegte, was sie bei sich trug, das irgendwas an Wert hatte. Ihre Ohrringe waren sicher nicht mal einen einzigen Kaffee wert und ansonsten trug sie keinen Schmuck. Sie griff erneut in ihre Taschen. Das Handy. Sie nahm es hervor und platzierte es vor Clementine auf dem Tresen.

„Das ist prima. Ich werde es bei mir lassen und du kannst mir das Geld später bringen, ok?“

Paula nickte, schaltete das Gerät aus und tauschte es gegen ihre Bestellung.

„Vielen, vielen Dank!“ Paula war unendlich erleichtert. Gerne hätte sie Clementine ihre Dankbarkeit noch ausführlicher zum Ausdruck gebracht, aber dafür blieb keine Zeit. Sie schnappte sich den Kaffee und rannte zurück Richtung Agentur. Diesmal spielte auch der Aufzug mit, denn seine Türen öffneten sich zeitgleich mit dem Betreten der Eingangshalle. Sie hastete hinein, drückte den Knopf mit der Ziffer vier, woraufhin sich die Türen schlossen. Endlich setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung, was Paula abermals aufatmen ließ. Ein beiläufiger Blick auf die Uhr verriet, dass bis zum Beginn des Meetings fünf Minuten blieben. Ihr Plan war aufgegangen. Wer hätte das gedacht? Trotzdem war sie noch immer durch den Wind. Sie konnte das, was ihr gerade im Coffee Shop passiert war noch immer nicht glauben. Wie war es überhaupt möglich, dass sie nächtelang von einer ihr völlig unbekannten Frau träumte und ihr schließlich tatsächlich gegenüberstand? Kurz kam ihr der Verdacht, dass sie auch jetzt gerade träumte und eigentlich friedlich in ihrem Bett schlummerte. Aber nein, so fühlte es sich nicht an. Inzwischen war sie im vierten Stock angekommen. Als sie den Meetingraum erreichte, stellte sich heraus, dass der Kunde noch nicht eingetroffen war. Alles war gerade noch einmal gut gegangen.

Das Treffen mit dem Kunden war ein voller Erfolg. Mit zufriedenen Gesichtern verabschiedeten sich die Beteiligten voneinander und nachdem der Kunde die Agentur verlassen hatte, war auch Melissa die abfallende Last deutlich anzumerken. Entgegen ihrer bisherigen steifen Art verfiel sie beim Aufräumen des Meetingraums in einen lockeren Plauderton.

„Der Termin ist absolut rund gelaufen. Ich bin ja so erleichtert. Und Paula, du hast für unser kleines Kaffeeproblem schnell eine Lösung gesucht und sie sofort umgesetzt. Das war großartig.“

Paula freute sich über das Lob, wenngleich „schnelles Kaffee holen“ sicherlich keine Tätigkeit war, die sie am Ende in ihrem Arbeitszeugnis als herausragendes Merkmal vermerkt haben wollte. Wenn Melissa wüsste, welche Hürden sich ihr währenddessen in den Weg gestellt hatten. Aber davon wollte Paula ihrer Vorgesetzten besser nichts erzählen. Den Rest des Tages assistierte Paula ihren Kollegen bei der Umsetzung der wenigen Änderungswünsche des Kunden. Hochkonzentriert versuchte sie alles aufzunehmen, was ihr erklärt wurde. Doch musste sie sich eingestehen, dass ihre Gedanken immer wieder gen Coffee Shop abdrifteten, zu der netten Verkäuferin, der Fremden aus ihrem Traum, die nun einen Namen hatte. Clementine.

Kurz vor Feierabend fiel Paula ein, dass sie noch mit Peter über den Kaffeeautomaten des Grauens sprechen wollte. Sie war diejenige, die den Stecker aus der Steckdose gezogen hatte und wenn sie damit dem blöden Ding den letzten Rest gegeben hatte, dann war das sicher nicht gut, aber sie war bereit, ihre Tat zuzugeben. Immerhin hatte sie in bester Absicht gehandelt und sie war sich sicher, dass Peter das ebenfalls so sehen würde. Vor allem wollte sie jedoch ihrer unliebsamen Kollegin zuvorkommen, die zwar nicht eindeutig gedroht hatte, diesen Vorfall ihrem Chef unter die Nase zu reiben, der das aber absolut zuzutrauen war. Deshalb trat Paula jetzt ein zweites Mal an diesem Tag den Weg zu Peter an.  Wieder klopfte sie und wieder wurde sie hineingebeten. Sie nahm Platz und begann mit anfänglichem Gedruckse den Vorfall vom Morgen wiederzugeben. Mit jedem weiteren Satz verbreiterte sich Peters Grinsen, bis er schließlich in ein amüsiertes Lachen verfiel.

„Hab ich was falsch gemacht?“, fragte Paula verdutzt.

„Nein, überhaupt nicht.“ Noch immer schmunzelte Peter. „Schön, dass du bereits Bekanntschaft mit Natalie gemacht hast. Sie ist…“, er hielt inne und suchte nach passenden Worten, „manchmal recht speziell.“ Peter rieb sich seufzend die Stirn und fuhr fort. „Sie ist Praktikantin, genau wie du. Allerdings ist sie schon seit fünf Monaten bei uns. Und sie hofft nach Abschluss ihres Studiums darauf, hier übernommen zu werden. Natalie ist extrem ehrgeizig und auch verdammt gut. Aber mit technischen Geräten hat sie es nicht so. Und es ist jetzt schon das dritte Mal, dass sie die Kaffeemaschine, nennen wir es mal, demoliert hat. Ich vermute sie hat Angst, dass sie das Ding ihre Stelle kostet. Was natürlich Quatsch ist, aber das verraten wir ihr mal nicht“, flüsterte Peter nun verschwörerisch und zwinkerte Paula zu.

„Gut, das beruhigt mich. Dann nehme ich ihr Verhalten mal nicht persönlich“, lächelte Paula zurück.

„Nein, das solltest du nicht. Ok, wenn damit alles geklärt ist, dann sollten wir jetzt mal Feierabend machen“, schlug Peter vor. Paula nickte, beide erhoben sich von ihrem Stuhl und steuerten gemeinsam den Fahrstuhl an, auf dessen Ankunft sie nun warteten.

„Kann ich dich eigentlich mitnehmen? Wenn ich mich recht erinnere, dann liegt deine Wohnung auf dem Weg.“ Paula überlegte, ob sie ein solches Angebot von ihrem Chef annehmen konnte und entschied sich schließlich dafür. Die Chance einer vollgepfropften U-Bahn zu entgehen, konnte sie nicht widerstehen.

Etwa zwanzig Minuten später setzte Peter sie vor ihrer Haustür ab.

„Bis morgen. Und vielen Dank fürs Mitnehmen“, verabschiedete sich Paula.

„Ja, bis morgen.“

Beim Betreten der Wohnung bemerkte sie sofort die Geräusche des Fernsehers. Mary hatte also auch schon Feierabend. Also marschierte Paula auf direktem Weg ins Wohnzimmer und ließ sich rücklings mit einem Seufzen aufs Sofa fallen.

„Und, wie war dein erster Tag?“, fragte Mary und tippelte aufgeregt mit den Fingerspitzen aufeinander.

„Frag lieber nicht“, stöhnte Paula.

„Ach komm schon, erzähl.“

„Na schön…“ Paula begann ganz von vorn, erzählte von ihrem Chef, von der strengen Melissa und ihrem Erzfeind Dan aus dem dritten Stock und natürlich auch von Natalie, die ihr die Sache mit dem Kaffeeautomaten unterjubeln wollte.

„Ganz schön dreist von der. Pass bloß auf. Mit solchen Kollegen ist nicht zu spaßen. So wie du sie mir beschreibst, scheut sie nicht davor, andere über die Klinge springen zu lassen“, gab Mary mahnend zu bedenken. Paula nickte, denn Mary sprach aus, was Paula längst von Melissa dachte. Doch ohne diesen unangenehmen Zwischenfall wäre das Folgeereignis, das Paula noch immer unwirklich erschien und von dem sie Mary jetzt berichtete, nicht eingetreten.

„Nicht dein Ernst. Und sie sieht haargenau so aus?“, erwiderte Mary ungläubig, „Das ist schon etwas gruselig. Findest du nicht?“

Sie neckte Paula, indem sie sie spielerisch an ihren Oberarm boxte. „Du bist gruslig. Bist du jetzt etwa eine Hellseherin, oder was?“

„Es ist verdammt seltsam, oder?“ fand auch Paula.

„Ich bin gespannt, was Mark dazu meint, wenn ich nachher mit ihm telef…“ Siedend heiß fiel ihr ein, was sie völlig vergessen hatte. Entsetzt über ihre eigene Vergesslichkeit blickte sie Mary an: „Mein Handy!“

„Was ist damit?“, fragte Mary verwundert.

„Das ist noch bei Clementine.“

„Wer ist Clementine?“, Nun war Mary völlig verwirrt.

„Na die Frau aus meinen Träumen.“

Mary kugelte sich vor Lachen.

„Du bist echt die Beste. So viel Entertainment hatte ich schon ewig nicht mehr. Aber ich verstehe noch immer nicht. Warum genau hat sie jetzt dein Handy?“, Paula berichtete von ihrem Dilemma mit dem fehlenden Geld und der daraus resultierenden Vereinbarung. „Ruf doch einfach mal in dem Laden an. Vielleicht arbeitet sie ja noch. Oder aber ihre Kollegen wissen Bescheid“, schlug Mary vor.

An Marys Computer recherchierte Paula die Nummer des Cafés und nahm sich anschließend Marys Handy.

„Clementine? Bei uns arbeitet leider keine Clementine“, sagte der freundliche Mann am anderen Ende der Leitung. Paula wollte sicherstellen, in der richtigen Filiale angerufen zu haben, was der Mann eindeutig bestätigen konnte. Von dem zurückgelegten Pfand wusste er ebenfalls nichts, also gab sich Paula wohl oder übel geschlagen, entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten und legte auf.

„Wie kann das sein? Meinst du, sie hat mich übers Ohr gehauen?“, überlegte Paula verwirrt.

„Nein, irgendwie glaube ich das nicht. Vielleicht hast du dir einfach einen falschen Namen gemerkt. Ich meine, du warst in dem Moment ja nicht grad bei Sinnen.“

„Ha, ha. Ich werde mir doch noch einen Namen merken können. Aber gut, ich werde es morgen einfach nochmal versuchen. Sie wird ja sicher wieder da sein.“

Aber wie sollte sie nun mit Mark Kontakt aufnehmen? Sie waren doch heute noch zum Telefonieren verabredet.

„Nimm mein Handy“, schlug Mary vor und Paula nahm das Angebot an.

„Nanu, wieso rufst du plötzlich mit einer anderen Nummer an?“, wollte Mark sofort wissen.

Paula überlegte, wie sie ihm das erklären sollte. Sie hatte sich über ihre Vergesslichkeit schon selbst genug geärgert, da fehlte ihr die Muse, Marks belehrende Worte über sich ergehen zu lassen. Paula kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er sich den ein oder anderen schlauen Spruch nicht verkneifen könnte. Sicher würde er sagen, dass es völliger Irrsinn gewesen war, das Telefon einer Fremden zu überlassen und auch über ihre anschließende Vergesslichkeit würde er den Kopf schütteln. Deshalb musste er mit einer anderen Geschichte vorliebnehmen.

„Ich hab mein Handy im Büro liegen lassen“, flunkerte sie.

„Ach Schatzi“, seufzte er, als habe sie damit etwas furchtbar Dummes getan. Er bestätigte mit dieser Reaktion, dass Paula richtig entschieden hatte, indem sie ihm ihren kleinen Fauxpas unterschlug. Sie verzichtete zudem auf den Rest der Geschichte mit Clementine, oder wie auch immer sie in Wahrheit hieß. Ihre Sorge, sich verplappern zu können und sich dann vor Mark rechtfertigen zu müssen, war schlicht zu groß. Stattdessen berichtete sie von ihrer neuen Arbeitsstelle und ließ sich von Mark über den neuesten Tratsch und Klatsch aus der Uni informieren. Während Mark erzählte, begannen Paulas Augen zuzufallen. Der Tag hatte sie ziemlich geschafft und sie sehnte sich nach ihrem Bett.

 „Mark?“, unterbrach sie ihn, „Sei mir nicht böse, ich bin hundemüde. Ich melde mich wieder, sobald ich mein Handy wiederhabe, ok?“, Mark war einverstanden und sie gaben sich zum Abschied schmatzende Luftküsse durchs Telefon. Mary rollte im Hintergrund genervt mit den Augen.

„Schrecklich“, kommentierte Mary das Geturtel nachdem die beiden aufgelegt hatten.

„Was denn? Wir vermissen uns halt.“          

„Und warum hast du ihm nichts von Clementine erzählt?“

„Ach, er hätte nur rumgestresst. Von wegen, wie kannst du nur dein Handy rausrücken. Darauf hatte ich jetzt echt keine Lust.“ Mary hob zweifelnd die Augenbrauen.

„Du verheimlichst, dass du die Frau deiner Träume getroffen hast. Na, wenn das nicht mal ein verheißungsvoller Vorbote ist“, unkte sie. Mary ernte dafür einen Klaps auf dem Arm.

„Erzähl keinen Unsinn.“

„Wie du meinst“, schmunzelte Mary bedeutungsvoll.

„Ich geh jetzt schlafen. Sonst musst du mich morgen wieder wecken, weil ich den Wecker nicht höre.“

„Das ist ein gutes Argument. Ich kann morgen nämlich länger schlafen.“

Paula sprang auf und ging zuerst ins Bad. Als sie anschließend auf dem Weg in ihr Zimmer das Wohnzimmer durchquerte, ließ es sich Mary nicht nehmen und rief ihr grinsend „Süße Träume“ hinterher. Paula rümpfte die Nase, erwiderte allerdings nichts. Sie hatte bereits einen solchen Kommentar erwartet. Die beiden zogen sich gerne gegenseitig auf und weil Mary ihre beste Freundin war, konnte Paula gut damit umgehen. Sie musste zugeben, dass sie tatsächlich schon darüber nachgedacht hatte, ob die Frau, ob Clementine ihr heute Nacht wieder im Traum erschien. Vielleicht hoffte sie sogar ein bisschen darauf, denn womöglich konnte Traum-Clementine ihr verraten, wo ihr reales Pendant mit Paulas Handy abgeblieben war. Sie schmunzelte über ihren unsinnigen Gedanken. Natürlich entsprang die Frau aus dem Traum ihrer Fantasie und wusste nichts über die wahre Clementine zu berichten. Und dennoch. Die Frau hatte ihre Neugier geweckt und irgendwie wäre ihr jetzt, nachdem sie die echte Clementine kennengelernt hatte, ihr nächtlicher Besuch ganz willkommen. Sie freute sich insgeheim darauf, erneut in diese geheimnisvollen, dunklen Augen zu blicken, wollte einen erneuten Versuch wagen, diesen Blick zu entschlüsseln. Dabei schien es bislang genau umgekehrt zu sein. Paula hatte das Gefühl, als könnte Clementine direkt in ihren Kopf schauen und ihre Gedanken lesen. Nicht nur die erträumte Clementine, sondern auch die Echte. Sie erinnerte sich an den heutigen Morgen, als ihre Blicke das erste Mal aufeinandergetroffen waren. Bei dem Gedanken daran wurde Paula plötzlich ganz warm und sie spürte, wie sich ihr Herzschlag zu beschleunigen begann. Was machte ihr Körper da? Ihre Reaktion auf diese Erinnerung verwirrte und verunsicherte Paula. Tief in ihrem Inneren war ihr durchaus bewusst, was ihr Körper da trieb. Doch diesen Gedanken wagte sie nicht zu formulieren, denn das war unmöglich. Sie sollte sich besser schnell über etwas anderes den Kopf zerbrechen und dachte darüber nach, welche Aufgaben sie an ihrem zweiten Arbeitstag erwarten würden. Ihre Idee zeigte Wirkung, denn schon bald übermannte sie die Müdigkeit und sie schlief tief und fest ein.

Bereits beim ersten Rappeln des Weckers schlug Paula die Augen auf. Diesmal war sie Mary zum Glück zuvorgekommen, denn ein zweites Mal wollte sie den wohlverdienten Schlaf ihrer Freundin nicht auf dem Gewissen haben. Paula hatte sich heute vorsorglich eine halbe Stunde früher wecken lassen, damit ihr noch ausreichend Zeit blieb, um sich im Coffee Shop das Handy abzuholen. Mit ihrer Bonuszeit traf sie frühzeitig vor dem Laden ein, doch ein Blick durch die Glasfront ließ bereits erahnen, dass auch an diesem Tag eine lange Schlange auf sie wartete. Allerdings wollte Paula keinen Kaffee bestellen, also trat sie in den Laden und platzierte sich so, dass sie Sicht auf die Theke erhielt. Bestimmt war ihr ihre Enttäuschung am Gesicht abzulesen als sie feststellte, dass von Clementine weit und breit nichts zu sehen war. Natürlich rührte ihre Enttäuschung einzig und allein davon, dass sie noch immer auf ihr Mobiltelefon verzichten müsste. Das jedenfalls redete sich Paula mit fester Überzeugung ein. Sie wusste nicht warum, aber gerade jetzt fiel ihr auf, dass sie sich heute Morgen an keinen Traum erinnern konnte. Scheinbar war diese Frau plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.

Frustriert begab sie sich Richtung Ausgang, als ein leicht gehetzter Mitarbeiter des Ladens ihren Weg kreuzte. Kurzerhand griff sie ihn am Arm und brachte ihn damit zum Stehen.

„Kennst du eine Clementine? Sie arbeitet hier“, fragte sie den überrumpelten Angestellten.

„Clementine? Sorry, sagt mir nichts.“ Der Mann schüttelte den Kopf und setzte hastig seinen Weg fort.

Paula konnte es nicht fassen. Sie hatte sich diese Frau doch nicht eingebildet. Niedergeschlagen und genervt verließ sie den Coffee Shop und begab sich zu ihrer Arbeitsstelle. Sie hatte damit gerechnet, vor Melissa einzutreffen, denn Paula war durch den unerwartet kurzen Stopp im Coffee Shop ziemlich früh dran. Auch die anderen Büros schienen noch verwaist, denn sie hatte im Vorbeigehen niemanden angetroffen. Zeit genug, um sich in Ruhe einen Tee in der Küche zuzubereiten. Beim Eintreten in die Küche schreckte sie zusammen, denn sie hatte fest damit gerechnet, auch hier noch niemanden vorzufinden. Ausgerechnet Natalie war es, die ihr an diesem frühen Morgen zuerst über den Weg laufen musste. Paula musste sich zwingen, nicht sichtbar die Nase zu rümpfen. Auch Natalie wirkte zunächst erschrocken, doch zu Paulas Überraschung, besah ihre Kollegin sie anschließend mit einem reumütigen Blick.

„Ah, da bist du ja wieder. Du, wegen gestern…“ Sie hielt kurz inne. „Tut mir leid. Ich stehe wirklich auf Kriegsfuß mit diesem blöden Ding.“ Sie deutete auf die Kaffeemaschine, die inzwischen ein Out of Order-Schild trug.

„Schon ok. Ich bin übrigens Paula.“

„Natalie.“ Sie bot Paula ihre Hand an.

„Bist du auch Praktikantin?“, fragte Natalie und bereitete sich nebenbei einen Instantkaffee zu.

„Ja, für zwei Monate. Danach gehe ich wieder zurück nach Deutschland.“ Paula ließ bewusst fallen, dass sie die von Natalie angepeilte Stelle ihr nicht streitig machen würde. Diese Information zeigte umgehend Wirkung, denn sofort entspannten sich Natalies Gesichtszüge und sie begegnete Paula jetzt mit einem offenen Lächeln.

„Du bist Deutsche? Das hört man gar nicht“, versuchte sie Paula zu schmeicheln.

„Ja, danke. Mein Vater ist Amerikaner.“

Sie plauderten entspannt miteinander, bis Paulas Tee fertig war. Danach trennten sich ihre Wege und sie begaben sich zu ihren Arbeitsplätzen. Paula war froh, dass sie die angespannte Situation zwischen ihnen auflösen konnte. Es hatte sich nicht gut angefühlt, sich direkt zu Beginn des Praktikums feindlich gesinnten Kollegen gegenüberzusehen. Das eine Problem hatte sie nun behoben, das andere gab ihr weiterhin Rätsel auf. Ob Clementine womöglich in dieser Woche später mit ihrer Arbeit begann? Vielleicht würde Paula sie zur Mittagspause dort antreffen. Einen Versuch wäre es wert.

Doch zunächst versorgte Melissa sie mit jeder Menge Arbeit und endlich wurden die Aufgaben anspruchsvoller. Paula verstand das als Kompliment. Melissa schien ihr also mehr als nur Kaffeeholen zuzutrauen. Vor der Mittagspause reichte Paula bei der Buchhaltung die Quittung vom Vortag ein. Im Gegenzug erhielt sie das vorgestreckte Geld, das sie streng genommen ja gar nicht vorgestreckt hatte. Doch das verriet sie besser niemandem. Erneut steuerte sie also den Coffee Shop an und allmählich kam sich Paula, die nicht einmal gern Kaffee trank, ein wenig albern vor. Ihr altbekannter Freund namens Warteschlange begrüßte sie bereits an der Eingangstür. Mit einem resignierenden Seufzer reihte sie sich ein, denn sie wollte nicht schon wieder Aufsehen erregen. Sie hatte natürlich längst entdeckt, dass auch diesmal nicht Clementine hinter der Theke stand. Aber vielleicht arbeitete sie ja hinten im Lager, zumindest war das Paulas leise, wenngleich unwahrscheinliche Hoffnung. Immerhin stand im Moment nicht der wenig hilfreiche, junge Mann von heute Morgen hinter dem Tresen. Der hätte sie wahrscheinlich bei ihrem erneuten Aufkreuzen für völlig übergeschnappt gehalten. Jetzt bei dem unbekannten Gesicht galt, neues Spiel, neues Glück. Diesmal versuchte sie allerdings eine neue Strategie.

„Hier arbeitet eine hübsche Dunkelhaarige. Mit dunklen Augen und einem kleinen Muttermal an diese Stelle.“ Sie deutete auf ihre Wange. Der Verkäufer grinste.

„Du meinst Jane, ja. Aber sie ist nicht da.“ Der Mann hatte keine Ahnung wie erlösend seine Antwort auf Paula wirkte. Endlich bestätigte ihr jemand, dass sie keiner Sinnestäuschung auferlegen war.

„Ok, aber immerhin kennst du sie. Weißt du, wann sie das nächste Mal arbeitet?“

„Oh, soweit ich weiß, hat sie den Rest der Woche frei.“ Das war eine Katastrophe. Paula schüttelte abwehrend den Kopf. Sie konnte keinesfalls eine Woche auf ihr Handy verzichten. Zumal damit ihre kleine Flunkerei Mark gegenüber auffliegen würde. Sie erklärte dem Kaffeeverkäufer ihre missliche Lage in der Hoffnung, dass er irgendeine Lösung für sie parat hätte.

„Ich schaue mal, ob sie das Handy irgendwo hingelegt hat.“ Er kramte die vor ihm befindlichen Schubladen gründlich durch, schüttelte aber dann entschuldigend mit dem Kopf.

„Hast du eine Nummer von ihr?“

„Nein, sorry. Ich arbeite erst seit Kurzem hier. Wir kennen uns also nicht so gut.“

Langsam gingen Paula die Ideen aus, doch so schnell wollte sie sich diesmal nicht in die Flucht schlagen lassen. Allerdings wurde die Schlange hinter ihr allmählich ungeduldig. Um Zeit zu schinden, bestellte sie einen Kaffee. Den könnte sie vor Ende ihre Pause noch kurz bei Dan vorbeibringen.

„Hast du irgendeine Idee, wo ich sie sonst antreffen könnte?“ Sie nutzte die Zeit, in der ihr Kaffee zubereitet wurde, indem sie den Verkäufer mit Fragen löcherte. Irgendwas musste doch herauszufinden sein. Er grübelte. Dann fiel ihm tatsächlich etwas ein.

„Ich glaube sie hat neulich erwähnt, dass sie mal im Nox gejobbt hat. Das ist ein kleiner Club gar nicht so weit von hier. Vielleicht kann dir da jemand weiterhelfen.“

Das war zwar nur ein kleiner Strohhalm, aber immerhin. Paula bedankte sich, gab ihm ein großzügiges Trinkgeld und kehrte zurück zur Agentur. Warum sich Jane ihr gegenüber als Clementine vorgestellt hatte, war ihr allerdings immer noch nicht klar. Oder hatte sich Paula doch so deutlich verhört?

Der Aufzug brachte sie geradewegs in die dritte Etage, wo sie die letzten Minuten ihrer Mittagspause verbringen wollte. Sie grüßte im Vorbeigehen den kauzigen Brillenträger vom Vortag und wie am Tag zuvor, schaute er mit einem verschreckten Gesichtsausdruck zurück. Scheinbar, so nahm Paula an, bekamen die Kollegen hier unten wirklich nur selten Besuch. Auch diesmal traf sie Dan wieder vor der Druckmaschine an. Allerdings machte die Maschine gerade keinen Mucks, weshalb Dan sie beim Eintreten sofort bemerkte.

„Ach, Mädchen“, begrüßte er sie, sichtlich erfreut. „Wieder ein Auftrag in letzter Minute? Willst mich doch nicht tatsächlich mit einem Kaffee bestechen?“

Paula lachte: „Nein, keine Sorge. Kein Auftrag heute. Aber der Kaffee ist in der Tat für dich.“

„Na, da sag ich nicht nein“ Paula amüsierte sich über seine auf den ersten Blick eher ungehobelte Art. Denn sein sanftes Lächeln verriet, dass sich hinter der harten Schale ein weicher Kern verbarg. Sie verbrachte die restliche Mittagspause damit, sich von Dan die Druckmaschine erklären zu lassen. Zwar jonglierte er dabei mit vielen Fachbegriffen, da sich Paula aber während ihres Studiums einen Vortrag über moderne Drucktechniken angesehen hatte, konnte sie ihm einigermaßen gut folgen. Die zweite Hälfte ihres Arbeitstags verlief erfreulich ereignislos. Die Arbeit, mit der Melissa sie eingedeckt hatte, beschäftigte sie so gut, dass sie die Misere mit ihrem Handy für einen Moment vergaß. Kurz vor Feierabend besprach sie mit Melissa die erledigten Arbeiten und da Melissa nichts daran auszusetzen hatte, konnte Paula ihren Arbeitstag mit einem zufriedenen Gefühl beenden. Sie hatte sich vorgenommen, vor ihrer Heimfahrt dem Nox einen kurzen Besuch abzustatten. Die Adresse hatte sie bereits im Internet recherchiert, also machte sie sich auf den Weg. Den längsten Teil der Strecke konnte sie mit der U-Bahn zurücklegen. Ab da gestaltete sich ihre Suche etwas schwieriger. Ohne digitale Karte fühlte sie sich ziemlich aufgeschmissen. Erst nach längerem Rumgeirre kam sie auf die glorreiche Idee, einen Passanten nach dem Weg zu fragen. Wie sich herausstellte, hatte sie ihr Ziel bereits mehrere Male umkreist und jedes Mal die entscheidende Abzweigung übersehen. Zu guter Letzt stand sie vor einer schwarzen, unscheinbaren Tür, die sie ohne bewusste Suche vermutlich übersehen hätte. Über ihr hing ein ebenso unscheinbares Schild mit der stellenweise abgeblätterten Aufschrift Nox.

Na denn. Paula zog die schwere Tür auf. Ein schlecht beleuchteter Gang führte zu einem großen Raum, aus dem bereits Musik nach draußen drang. Paula betrat den Raum und wurde überrascht, denn das Innere war deutlich gemütlicher, als es der Eingang versprach. Gäste waren nicht zu sehen, dafür war es wohl viel zu früh. Jedoch entdeckte sie eine Frau hinter dem Tresen. Paula steuerte auf sie zu.

„Oh Süße, wir haben noch gar nicht geöffnet“, wurde Paula von der burschikosen Frau begrüßt.

„Schon ok, ich suche nur jemanden. Hier hat wohl mal eine Jane gearbeitet.“ Die Frau überlegte.

„Sagt mir jetzt nichts. Allerdings bin ich nur dienstags hier, kann gut sein, dass es eine Jane gibt, von der ich nichts weiß.“ Paula presste die Lippen frustriert zusammen. Sollte das wieder eine Sackgasse werden?

„Oder vielleicht eine Clementine?“, versuchte es Paula erneut.

„Nein, sagt mir auch nichts. Aber komm doch morgen Abend gegen zehn, dann ist die Chefin da. Wenn es jemand weiß, dann wohl sie.“

Paula bedankte sich und musste sich wohl oder übel damit abfinden, auch heute ohne ihr Handy den Heimweg anzutreten. Sie hatte noch keinen Schimmer wie sie das Mark erklären sollte, aber vielleicht hatte Mary ja irgendeine Idee.

„Sag ihm, dass es geklaut wurde.“

„Na toll, damit wird er mich ein Leben lang aufziehen“ Paula war genervt.

„Am besten melde ich mich heute einfach gar nicht“, trotzig verschränkte Paula ihre Arme.

„Oh ja, das ist viel besser“, grinste Mary.

„Du hast ja recht”, seufzte sie resignierend, „Ich werde einfach improvisieren. Mal sehen, wie er drauf ist.“

Paula lieh sich erneut Marys Handy und klingelte Mark an. Doch er nahm den Anruf nicht an. Sie vermutete, dass er bereits schlief, immerhin war es bei ihm mitten in der Nacht. Stattdessen schrieb sie ihm also noch ein paar Worte. Er solle sich keine Sorgen machen. Alles sei gut und sie würde sich melden. Irgendwie war sie froh, ihn nicht direkt erreicht zu haben. So entging sie einer weiteren Schwindelei.

„Kommst du morgen mit in diesen Club?“, fragte sie Mary, bevor sie ins Bett ging.

„Klar, es besteht immerhin die Chance, deine Traumfrau zu sehen.“

„Du bist so blöd“, maulte Paula, fand das Wortspiel aber eigentlich ziemlich lustig. Die beiden wünschten sich gegenseitig eine gute Nacht und verschwanden anschließend in ihren Zimmern. Paula seufzte. Am Ende hätte der Tag irgendwie besser laufen können. Dafür, dass der Arbeitstag eigentlich recht erfolgreich verlaufen war, war sie ziemlich unzufrieden und ausgelaugt. Müde ließ sie sich auf ihr Bett fallen, zog die Decke bis unters Kinn und schlief unmittelbar ein. Es war eine kühle Nacht, die eigentlich friedliche Erholung versprach. Dennoch schlug Paula inmitten der Dunkelheit plötzlich die Augen auf. Ein feiner Schweißfilm hatte sich auf ihrer Stirn gebildet und sie spürte ihr Herz in ihrer Brust heftig pochen. Sie war ihr wieder erschienen. Aber etwas war anders gewesen. In allen vorherigen Träumen hatte Paula Clementine lediglich betrachtet, jedoch niemals berührt. Diesmal aber hatte Paula sanft über ihr Gesicht gestrichen. Paula konnte noch immer diese zarten, warmen Wangen auf ihren Fingerspitzen fühlen. Diese Berührung war zutiefst sinnlich und fühlte sich zugleich ganz natürlich an. Paula hatte ihre Augen inzwischen wieder geschlossen und versuchte sich an jedes Detail ihres anregenden Traums zu erinnern. Als ihr unvermittelt ein erregter Seufzer entfuhr, zuckte sie erschrocken zusammen. Stocksteif lag sie jetzt in ihrem Bett. Das alles machte ihr Angst. Natürlich hatte auch Paula gelegentlich erotische Träume, aber weder war sie dieser, aus ihrer Fantasie entsprungenen Person danach tatsächlich begegnet, noch hätte sie es für möglich gehalten, dass es sich dabei um eine Frau handeln könnte. Paula versuchte sich zu beruhigen. Es war nur ein Traum. Nichts weiter. Und schließlich hatten sie in dem Traum nicht wirklich miteinander rumgemacht. Es war nur eine Berührung gewesen. Jedoch eine, das musste sich Paula eingestehen, die so viel intensiver war, als die meisten erotischen Begegnungen, die sie bis dahin erlebt hatte.

Paula schüttelte sich, um ihre Gedanken loszuwerden. Sie sollte einem blöden Traum nicht so viel Bedeutung zumessen. Außerdem musste sie dringend wieder einschlafen. Sie kuschelte sich in ihr Kissen, schloss die Augen und dachte über ihren Job nach. Darüber, was morgen in ihrem Terminkalender stand und was sie noch erledigen musste. Wenige Minuten später setzte ihr gleichmäßiges, ruhiges Atmen ein und der Schlaf hatte wieder übernommen.



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